Tierfotos im Stuttgarter Schlossgarten
 
Die wilden Amazonen in Stuttgart



Thea (Aquarell)

Die Population in Stuttgart
Identifizierung
Fortpflanzung
Das Leben der Papageien in der Großstadt Stuttgart
Geschichte von Thea, dem Amazonen-Weibchen
Thea wurde von einem Greivogel angegriffen
Ein Feuerwehreinsatz im Park für Thea

Porträt



Die Population in Stuttgart

Seit über 30 Jahren fliegt am Himmel Stuttgarts ein großer Schwarm von wilden Gelbkopfamazonen, eine seltene Papageienart, die aus Zentralamerika stammt. Sie gilt als die einzige wilde Kolonie weltweit außerhalb Amerikas. Über das Entstehen dieser Population habe ich verschiedene Varianten von Leuten gehört, die damals das Geschehen miterlebt hatten. Teilweise widersprechen sich die Informationen. Was dabei konkret und sicher gilt, ist dass 1984 im Areal Wilhelma/Rosensteinpark eine ausgebüchste Gelbkopfamazone (Amazona oratrix) erschien, die regelmäßig ihre Artgenossen im Zoo besuchte. In einer Variante, die ich gehört hatte, heißt es, dass diese Amazone in einen Papagei einer anderen Art in der Zoo-Voliere sich verliebte und versuchte durch das Gitter ihn zu füttern. Wie bei manchen anderen Vogelarten zeigt ein Papageien-Männchen seine Liebe zu einem Weibchen, indem es ihm mit dem Schnabel Futter überreicht. Einige Tierfreunde empfanden Mitleid für diese einsame Amazone und sollen Spendengeld gesammelt haben, um für ihn eine freie Partnerin zu besorgen. Jedenfalls war das Amazonen-Männchen eines Tages nicht mehr alleine. Aber bald sah es so aus, als ob das Weibchen verschwunden war. "Wir dachten, dass sie nicht überlebt hatte" erzählte mir jemand, der damals das Geschehen begeistert verfolgt hatte. Doch im Sommer 1986 entdeckte man plötzlich fünf frei lebende Amazonen! Der Vogel, den man für verschwunden hielt, hatte gebrütet.


Das "Gründerpärchen" mit ihren drei Jungen in der Wilhelma im Jahr 1986
(Foto:Dieter Hoppe)


Das Pärchen hatte erfolgreich drei Junge aufgezogen und in den folgenden Jahren bekam es regelmäßig Nachwuchs. Nach und nach wurde die Familie größer. Der Papageienexperte und Buchautor Dieter Hoppe hatte diese Entwicklung von Anfang an durch regelmäßige Zählungen der Population an ihren Schlafplätzen genauer dokumentiert. Die Amazonen haben die Gewohnheit außerhalb der Brutzeit gemeinsam an einem bestimmten Schlafplatz zu übernachten. Der Schlafplatz der Stuttgarter Population befindet sich heute in der Innenstadt von Bad Cannstatt, aber in dreißig Jahren hat er ein paarmal gewechselt. Was immer gleich bleibt, ist dass die Amazonen in Stuttgart Platanen als Schlafbäume bevorzugen. Vielleicht fühlen sie sich durch die glatte Rinde vor Fressfeinden geschützt. Der Wechsel der Schlafplätze sowie die Entwicklung der Population der Stuttgarter Amazonen wurde erst von Dieter Hoppe und später von mir sowie einigen "Kollegen" wie folgt dokumentiert:

1989 = 8 Wilhelma
1995 = 16 Wilhelma
1999 = 33 Daimlerstraße
2005 = 38 Leuzebad
2006 = 38 Eisenbahnstraße
2010 = 48 Innenstadt Bad Cannstatt
2011 = 48 Innenstadt Bad Cannstatt (Dieter Hoppe/Johanne Martens)
2013 = 58 Innenstadt Bad Cannstatt (Dieter Hoppe/Johanne Martens)
2014-15 = 51 Innenstadt Bad Cannstatt (Hoppe/Martens/Arai)
2015-16 = 61 Innenstadt Bad Cannstatt (Arai/Hahn)
2016-17 = 59 Innenstadt Bad Cannstatt
2017-18 = 64 Innenstadt Bad Cannstatt
2018-19 = 64 Innenstadt Bad Cannstatt



Eine Gruppe Amazonen frühmorgens auf einem Schlafplatz in der Innenstadt von Bad Cannstatt


Identifizierung

2013 lernte ich den Papageienexperte Dieter Hoppe persönlich kennen. Er erklärte mir gründlich die Biologie sowie das Brutverhalten der Papageien, was für mich den Ausschlag gegeben hatte, dass ich speziell diese Art intensiver zu beobachten begann.


Mit Dieter Hoppe und einem Pflegling

Langsam bemerkte ich, dass manche Individuen starke Merkmale besaßen und somit persönlich erkennbar waren. Das gelbe Muster am Gesicht, die Farbe des Schnabels sowie andere Details an den verschiedenen Körperteilen variieren von Papagei zu Papagei. Bei den Stuttgarter Amazonen dienen dazu außerdem als sichere Merkmale ihre Krallen, die wegen Erfrierung in kalten Wintern teilweise verwachsen sind oder sogar fehlen.

Für solche Vögel zeichnete ich mit Farbstiften ein Erkennungsbild. Anschließend versuchte ich auf den Schlafplätzen, wo die ganze Population im Winter auf einmal präsent ist, alle Papageien einzeln zu fotografieren und verglich die gezeichneten Erkennungsbilder mit den Fotos.



Gibt es mehrere Vögel, die das gleiche Merkmal besitzen? Wie viele Amazonen mit einem komplett gelben Kopf oder mit einem dunkeln Schnabel existieren? Besonders hilfreich bei einer ersten Identifizierung war die treue Partnerschaft der Amazonen. Da ein Pärchen stets zusammen bleibt und im Winter oft in einem bestimmten Lieblingsbaum dicht beieinander schläft, konnte ich viele Papageien zunächst als Paar erkennen. Allmählich bekam ich einen Überblick über die Struktur der Population. Nach anderthalb Jahren hatte ich alle Brutpaare identifiziert und gab ihnen Namen, wie z.B:

"Mimi und Rodolfo" aus der Oper La Bohème, weil das Weibchen Mimi eine extrem verwachsene Kralle besitzt. Wie eiskalt ist dein Füßchen… hatte vielleicht das Männchen ihm gesungen oder gekrächzt.

"Momo und Girolamo" aus dem Kinderbuch von Michael Ende Momo.

"Quetzi und Coatl" von Quetzalcoatl, dem Regengott der Mayas, weil die Gelbkopfamazonen ursprünglich aus Mexiko stammen.

Mit Hinblick auf die Kriegerinnen der griechischen Mythologie wurden mir ein paar griechische Namen vom Karikaturisten Kostas Koufogiorgos empfohlen, der oft in seinen Karikaturen lustige Stuttgarter Amazonen zeichnet, nämlich "Penelope und Odysseus" oder "Orpheus und Eurydike".


"Odysseus und Penelope" im Winter beim Wachwerden auf ihrem Schlafplatz


"Momo und Girolamo" in ihrem Brutrevier

Mittlerweile gab es Umpaarungen, die von häufigen Partnerverlusten verursacht wurden, so dass jetzt Girolamo mit Penelope zusammen ist!

Diese aufwendigen Identifizierungsarbeiten der einzelnen Vögel ermöglichte mir der Entwicklung der Population in den letzten drei Jahren genauer zu folgen. Die Sterblichkeit unserer Amazonen scheint leider sehr hoch zu sein. Jedes Jahr verschwinden ca.10 Papageien, die ich persönlich kannte. In der Brutsaison 2014 war die Zahl des Nachwuchses nicht ausreichend, um diesen Verlust zu kompensieren, daher entstand ein großer Rückgang der Population im Winter 2014/2015.



Fortpflanzung

Wie die meisten anderen Papageienarten leben die Amazonen monogam. Wie ein Pärchen stets eng zusammen bleibt, ist zu beneiden. Für viele Cannstatter ist es sicher ein alltägliches Bild zwei Amazonen dicht beieinander über der Stadt fliegen zu sehen. Amazonen brüten in Baumhöhlen. Platanen bieten nicht nur einen sicheren Schlafplatz, sondern auch einen idealen Nistplatz, weil mit fortgeschrittenem Alter sie oft große Höhlen in ihrem Stamm entwickeln. Trotz der massiven Abholzung wegen der Bauarbeiten für das Projekt Stuttgart 21, befinden sich bei uns heute noch einige Platanen mit geeigneten Höhlen im Bereich Schlossgarten/Rosensteinpark/Wilhelma.


Das Pärchen "Mario und Floria" inspiziert eine Baumhöhle


Jedes Amazonenpaar braucht dazu ein großes Revier. Das Brutgebiet Schlossgarten/Rosensteinpark/Wilhelma, das eine Größe von ca. 150 ha aufweist, wird von ca. 15-20 Brutpaaren geteilt, und nicht alle Paare haben das Glück ein Brutrevier zu finden. Vor dem Bauanfang des Projekts Stuttgart 21 gab es auch in der Platanengruppe am Ferdinand-Leitner-Steg im Mittleren Schlossgarten ein Brutrevier eines Amazonenpaars. Es fühlte sich wahrscheinlich durch die Baustelle gestört. Das Revier wurde verlassen, obwohl der Baum stehen geblieben ist. Ich weiss nicht, was aus diesem Paar geworden ist. Jedenfalls existiert es heute nicht mehr. Aber in der Brutsaison 2016 erschien wieder zwischen den Baustellen ein junges Paar und inspizierte die Höhlen an den Platanen dort. Vielleicht wird die neue Generation dieses verlassene Revier wieder benutzen, weil das Brutgebiet unserer Amazonen schon gesättigt zu sein scheint und ein neues Territorium für junge Paare nur selten verfügbar ist.

Glückliche Paare, die ein Brutrevier sowie eine Bruthöhle besitzen, fangen etwa Ende April/Anfang Mai an mit der Eiablage. Zwei bis vier Eier werden vom Weibchen ca. 26 Tage lang bebrütet. Während dieser Zeit sieht man am Himmel in Stuttgart das Männchen alleine fliegen. Es muss das Futter für sein brütendes Weibchen herbei schaffen. Es füllt seinen Kropf mit vorverdauter Nahrung, kehrt zum Brutbaum zurück, ruft nach seinem Weibchen, das in der Höhle sitzt und füttert es damit. Die Fütterung findet morgens und abends statt, jeweils ein bis zweimal.




Mimi und Rodolfo bei der Paarung und Fütterung

Ich bewundere, wie bei manchen erfahrenen Paaren die Kommunikation zwischen dem Weibchen in der Höhle und dem Männchen draußen raffiniert ist. Manche Männchen lassen überhaupt keinen Ton von sich hören. Trotzdem weiß das Weibchen, dass es zurück ist und klettert aus der Höhle raus. Solches Verhalten wurde auch in Puerto Rico bei den wilden Amazonen dort beobachtet und Wissenschaftler vermuten, dass das Weibchen den Flügelschlag seines Männchens erkennt (Snyder,1987).


Penelope kam aus ihrer Höhle raus, um von Odysseus gefüttert zu werden


Odysseus und Penelope bei der Paarung

Odysseus und Penelope waren so ein Pärchen, die sich richtig gut verstanden und zusammen mehrfach erfolgreich gebrütet hatten, bis dass eines Tages Odysseus nicht mehr zu seinem Brutbaum zurückkehrte. Er hatte wohl unterwegs bei der Futterbeschaffung in Münster einen Verkehrsunfall gehabt. Penelope wartete stundenlang auf ihn in ihrer Höhle. Irgendwann kam sie alleine raus und flog alleine weg, um selbst nach Futter zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Küken schon geschlüpft. Sie schaffte es nicht sie alleine aufzuziehen. Dieses Drama zu verfolgen war eine meiner traurigsten Erfahrungen seit Beginn meiner Beobachtungen.

Nach dem Ausschlüpfen wird das Weibchen noch 2-5 Wochen "hudern", das heißt, es sitzt weiter im Nest und wärmt seine Küken. Diese "Huderzeit" ist bei den Stuttgarter Amazonen sehr unterschiedlich. Ich habe beobachtet, wie manche Weibchen 5 Wochen lang in der Höhle blieben, während andere nach 2-3 Wochen schon ihr Nest verließen. Ob das mit der Temperatur zusammen hängt oder eine persönliche Angewohnheit ist, werde ich vielleicht erst nach einigen Jahren klären können. Nach dem Ende der Huderzeit werden die Elternvögel zu zweit ihre Jungen füttern. Mit etwa 65 Tagen werden diese flugfähig und können das Nest verlassen.


die zwei Jungen von Mimi und Rodolfo kurz vor dem Ausflug am 27. August 2015





Das Leben der Papageien in der Großstadt Stuttgart

"Was fressen sie denn bei uns?" ist vielleicht die häufigste Frage, die mir gestellt wird. Die Amazonen sind wie alle anderen Papageien Vegetarier. Sie fressen ausschließlich nur Pflanzen, sind dabei aber unglaublich vielseitig. Im Frühling freuen sie sich über die ersten Knospen. Anschließend werden die Blattaustriebe gefressen. Wenn die Blätter ausgewachsen sind, pflücken die Papageien diese und verzehren das Mark im Stiel. Blüten, die reichlich Nektar enthalten, sind auch willkommen, wie die von Spitz-Ahorn, Robinie, Kirsche, Kastanie oder Tulpenbaum.


eine Gruppe von jungen Amazonen freut sich über die ersten Kastanienknospen im Schlossgarten


Quetzi frisst ein Blatt von einer Buche


Thea frisst einen Blattstiel von einer Kastanie


Loris frisst eine Blüte von einem Spitz-Ahorn

Mit dem Beginn des Sommers wird die Amazonen-Speisekarte mit unterschiedlichen Obstsorten reichhaltiger: Kirschen, Maulbeeren, Pflaumen, Birnen, Äpfel, usw. Im Herbst schlemmen sie Hasel- und Walnüsse, Bucheckern, Hainbuchen- oder Kastanienfrüchte. Die Früchte von unterschiedlichen Ahornsorten bieten ihnen dazu eine wichtige Nahrungsquelle, die das ganze Jahr über verfügbar ist. Im Winter finden sie in den Samen der Eibe oder des Japanischen Schnurbaums sowie in den zahlreichen Baum-Haselnüssen, die am Boden liegen, eine rettende Fressmöglichkeit.


ein großer Schwarm Amazonen frisst in einem Schnurbaum


eine Gruppe Amazonen frisst Baum-Haselnüsse am Boden

Die Papageien sind frühmorgens und spätnachmittags aktiv. Wenn Sie nur gegen Mittag durch den Park spazieren gehen, haben Sie kaum eine Chance diesen ansonsten sehr auffälligen und stimmfröhlichen Vögeln zu begegnen. Schon beim Wachwerden mit dem ersten Tageslicht in Bad Cannstatt werden sie lautstark sich gegenseitig begrüßen, bzw. aus vollem Hals krächzen. Danach fliegen sie paar- oder gruppenweise zu ihren nächsten Aufenthaltsorten davon, wo sie weiter fröhlich gegenseitig miteinander "plaudern". Es wird dann gefressen, gespielt und auch häufig gestritten. Nach ca. 4 Stunden Aktivität kommt eine Mittagspause, eine ruhige Zeit. Gut im Laub getarnt und absolut still ruhen sie sich aus.


Thea und Pythagoras ruhen sich aus in einer Eibe im Rosensteinpark

Die Stadt sieht plötzlich wie "amazonenleer" aus. Abends werden sie wieder laut. Es wird nochmals gefressen und kurz vor dem Sonnenuntergang kehren sie lautstark zu ihren Schlafplätzen in der Innenstadt zurück.

Dieser Ablauf kann je nach Wetterlage oder Jahreszeit variieren. Jeder Vogel sowie jedes Paar hat noch dazu seinen eigenen Rythmus und eigene Vorlieben.

Das Pärchen "Gustav und Undine" war eher Einzelgänger. Es schlief und brütete ein bisschen abseits der ganzen Kolonie. Jeden Morgen nach dem Wachwerden folgte es zu zweit seinem eigenen Plan. Gustav ist Ende Februar 2016 verschwunden.



Undine (links) und Gustav (rechts) beim Wachwerden in ihrem Schlafbaum

Das Pärchen "Mimi und Rodolfo" ist eher gesellig und hatte eine gute Beziehung zu seinem Nachbar-Brutpaar "Odysseus und Penelope". Beide Paare waren im Jahr 2015 mit der Brut erfolgreich und die zwei Familien wurden im folgenden Herbst oft im gleichen Schlafbaum mit ihren Jungen beobachtet. Wie oben geschrieben verschwand Odysseus inmitten der Brut im Juni 2016. Durch seinen Tod war das Gleichgewicht zwischen den Brutpaaren im diesem Brutareal gestört. Es kam zu großen Unruhen und Umpaarungen.

Es gibt eine erwachsene Amazone "Thelma", vermutlich ein Weibchen, die trotz ihres Alters keinen festen Partner hat und immer hinter anderen Paaren herfliegt. Ich habe Dieter Hoppe gefragt, was mit ihr los sei. Er antwortete mir, dass es auch bei uns Menschen komische Typen gibt… Kurz gesagt, das gesellschaftliche Verhalten der Amazonen unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der menschlichen Gemeinschaften, erläuterte er mir. Aber es gibt eine feste Eigenschaft bei den Papageien: Sie ertragen keine Einsamkeit, auch Thelma bleibt immer bei einem toleranten Paar, das ihre Anwesenheit direkt in ihre Nähe duldet.




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